Warum es ethisch geboten ist, wieder auf Kernenergie zu setzen

  • Opinie

(The opinion piece below, written together with my friend and fellow philosopher Simon Friederich, was published in the German newspaper Die Welt on 12 October 2022, in a slightly condensed version. An English version will follow soon!)

Immer mehr Menschen in Deutschland, darunter Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, befürworten die Idee, die Laufzeit der letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland zu verlängern. Auf wachsenden internationalen Druck hin hat die Bundesregierung schließlich beschlossen, zwei Kernkraftwerke im kommenden Winter für einige Monate als Reserve vorzuhalten, um Energieknappheit zu verhindern. Manche fordern, die Laufzeiten darüber hinaus für ein paar Jahre zu verlängern oder auch die drei zuletzt abgeschalteten Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, um unsere Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Der Präsident des TÜV hat bestätigt, dass dies technisch möglich ist und dass die Reaktoren in einem hervorragenden Zustand sind. Andere, insbesondere die Basis der Grünen, sträuben sich bereits gegen die nun geplante, sehr eingeschränkte Laufzeitverlängerung.

Die Argumente der Kernenergiegegner haben traditionell eine ethische Dimension: Sie sehen die zivile Kernenergienutzung als ethisch unverantwortbar, weil folgenreiche Unfälle in Kernkraftwerken passieren können; weil sie künftigen Generationen mit dem Atommüll eine unberechenbare Last aufbürdet; und weil die ihr zugrundeliegende Physik sich mit der von Kernwaffen überschneidet und Expertise und Infrastruktur auf diesem Gebiet daher missbraucht werden können. Bedenken dieser Art scheinen auch die “Ethikkommission” im Jahr 2011 beeinflusst zu haben, als sie behauptete, ohne irgendwelche wissenschaftlichen Studien zu zitieren: “Nahezu alle wissenschaftlichen Studien kommen zu dem Schluss, dass erneuerbare Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz geringere Gesundheits- und Umweltrisiken mit sich bringen als die Kernenergie.” Verblüffenderweise gab die Kommission auch fossilen Energieträgern den Vorzug gegenüber der Kernenergie und empfahl – groteskerweise aus heutiger Sicht – mehr auf Erdgas zu setzen – und das obwohl fossile Brennstoffe jährlich zu 8 Millionen Todesfällen durch Luftverschmutzung beitragen und den Klimawandel antreiben, und obwohl sich durch das Setzen auf Erdgas Deutschlands Abhängigkeit von Russland vergrößert hat.

In unserer eigenen Forschung, kürzlich veröffentlicht in der renommierten Zeitschrift Philosophy and Technology, haben wir uns darauf gestützt, was die Wissenschaften tatsächlich an handfesten Erkenntnissen zu den Klima-, Sicherheits- und wirtschaftlichen Aspekten der Kernenergie herausgefunden haben. Und auf dieser Grundlage kommen wir nicht nur zu dem Schluss, dass es ethisch vertretbar ist, Kernenergie zu nutzen, sondern für manche Länder sogar ethisch geboten. Auch Deutschland sollte unserer Analyse nach, wenn es dafür einen demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Konsens herstellen kann, nicht nur die bestehenden Reaktoren verlängern, sondern neue bauen.

Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe, verbunden mit zwei tiefgreifenden Herausforderungen, vor denen die Menschheit in diesem Jahrhundert steht: dem Problem der gefährlichen globalen Erwärmung und dem weniger im Bewusstsein der Menschen verankerten Problem der Energiearmut: Energie und menschlicher Wohlstand sind eng miteinander verknüpft, und noch heute haben Milliarden von Menschen keinen ausreichenden Zugang zu billiger und zuverlässiger Energie, um der Armut zu entkommen. 

Keine Energiequelle ist perfekt, aber die Kernenergie hat ein einzigartig vielversprechendes Profil, um zur Lösung beider Probleme beizutragen, neben Solar- und Windenergie. Erstens verursacht die Spaltung von Urankernen keine Emissionen von Treibhausgasen oder Schadstoffen, so dass der CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde von Kernenergie zu den niedrigsten aller Energiequellen gehört. Zweitens hat Uran eine extrem hohe Energiedichte, selbst die heutigen “ineffizienten” Reaktoren holen etwa 15000 mal mehr Energie aus einem Kilogramm Uran als Kohlekraftwerke aus einem Kilogramm Kohle. Dadurch kommt die Kernenergie mit wenig materiellen Ressourcen aus, nimmt wenig Platz in Anspruch, erzeugt nur geringe Abfallmengen, und hat insgesamt sehr geringe Umweltauswirkungen. Es war für uns keine Überraschung, als die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission JRC vor einigen Monaten zu dem Schluss kam, dass die Kernenergie angesichts dieser Eigenschaften in die EU Taxonomie für nachhaltige Aktivitäten aufgenommen werden sollte, da es “keine wissenschaftlich fundierte Evidenz dafür gibt, dass die Kernenergie der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt mehr schadet als andere bereits in der EU Taxonomie aufgenommene Stromerzeugungstechnologien”, etwa Wind- und Solarenergie. 

Drittens sind Kernreaktoren, wenn sie so gut gewartet sind wie die deutschen, sehr zuverlässig und weitgehend wetterunabhängig in der Stromproduktion. Infolgedessen verringern sie den Bedarf an Infrastruktur im Energiesystem: Übertragungsleitungen, Speicher und Reservekapazitäten. Die in Deutschland noch laufenden Reaktoren könnten noch mehrere Jahrzehnte lang sicher billigen Strom produzieren, und wenn es uns gelingt, neue Reaktoren nach und nach wieder günstiger zu machen (z. B. durch die Bereitstellung von billigem Kapital und die Gewährleistung eines effizienten und stabilen Rechtsrahmens), können sie sehr hilfreich sein, um einen künftigen Anstieg der Energiekosten zu verhindern, der – wie wir derzeit sehen – für Verbraucher und Industrie verheerend sein kann. Andersherum ausgedrückt: Wenn wir uns allein auf variable erneuerbare Energiequellen verlassen, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass wir unsere Klimaziele verfehlen, weil wir riskieren, fossile Brennstoffe als Backup zu verwenden, und weil die Menschen hohe Energiekosten ab einem bestimmten Punkt einfach nicht akzeptieren werden.

Die Risiken, die von Atomunfällen und Atommüll ausgehen, sind verschwindend gering, verglichen mit den Risiken von Klimawandel und Energieknappheit. Systematische Vergleiche zwischen verschiedenen Energieträgern – unentschuldbarer Weise ignoriert von der Ethikkommission 2011 – haben längst gezeigt, dass die Kernenergie alles in allem in etwa soviel gesundheitliche Schäden pro erzeugter Einheit Energie verursacht wie Wind- und Sonnenenergie und bei weitem weniger als fossile Energieträger. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich das ändert: Selbst wenn in einem Atommüllendlager unerwartete Lecks auftreten, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass es zu Todesfällen oder nennenswerter Umweltverschmutzung kommt. Die durch den katastrophistischen Jugendbuch-Bestseller “Die Wolke” geschürte Befürchtung, ein Atomunfall könne weite Teile Deutschlands radioaktiv verseuchen und unbewohnbar machen, ist völlig unbegründet. Der Unfall in Fukushima, der die Merkel-Regierung zur sofortigen Abschaltung von acht Reaktoren und zur Beschleunigung des Atomausstiegs bewogen hat, hat möglicherweise keinen einzigen strahlungsbedingten Todesfall verursacht. Tatsächlich hat sich die Lebenserwartung von Menschen verringert, wenn sie aus der Region um Fukushima in eine Großstadt wie London oder Tokio evakuiert wurden, einfach weil die Luftverschmutzung in Großstädten ein viel größeres Gesundheitsrisiko darstellt als geringe Strahlungswerte (wie sie ähnlich überall in der Natur vorkommen). Ganz zu schweigen von der Belastung durch die unnötige Evakuierung, die Hunderte von Menschen, vor allem ältere Japaner, das Leben kostete.

Wenn westliche Länder wie die USA, Frankreich und, wer weiß, vielleicht eines Tages auch Deutschland, wieder mehr in Kernenergie investieren, werden sie nicht nur ihre eigenen Emissionen senken. Noch entscheidender ist, dass sie durch den Wiederaufbau einer wettbewerbsfähigen und exportfähigen Nuklearindustrie Emissionssenkungen in anderen Ländern erleichtern können. Wenn Entwicklungsländer keinen Zugang zu zuverlässiger sauberer Energie haben, werden sie zuverlässige fossile Kraftwerke bauen. Oder sie bauen russische Kernreaktoren, wie es Bangladesch und die Türkei derzeit tun. Ist es klug, nicht-demokratischen Ländern wie Russland und China in einer so wichtigen und für den Klimaschutz so nützlichen Energietechnologie das Feld zu überlassen?

Die Kernenergie wird aufgrund ihrer inhärenten physikalischen Attraktivität wahrscheinlich ohnehin nach und nach von immer mehr Ländern genutzt werden, wenn auch womöglich langsamer als für den Klimaschutz wünschenswert. Wenn wir wollen, dass es zügig, mit Gewinn für das Klima und auf verantwortungsvolle Weise geschieht, sollten wir diese Entwicklung mitgestalten und nicht autoritären Regimen überlassen. Insbesondere können wir unterstützen, dass neue Reaktoren gebaut werden – am besten viele.

(Simon Friederich & Maarten Boudry, Die Welt, 2 October 2022)